Interview | 14. Januar 2019
Mehr Natürlichkeit
Interview mit Prof. Michael Siegrist, World Food System Center, ETH Zürich
Vor welchen grundsätzlichen Herausforderungen steht die Welt bei der Nahrungsmittelversorgung?
Für eine stetig wachsende Bevölkerung müssen genügend Lebensmittel produziert werden. Die Mittelschicht wird in vielen Ländern wachsen und dadurch wird auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln, vor allem nach tierischen Proteinen, steigen. Die Produktion tierischer Produkte ist sehr ressourcenintensiv. Der Druck auf die Umwelt und die natürlichen Ressourcen wie Boden und Wasser wird daher zunehmen. Die Nachhaltigkeit der Lebensmittelproduktion wird in Zukunft noch wichtiger.
Was sollte geschehen, damit alle Menschen ausreichend gesunde Lebensmittel zur Verfügung haben?
Neben der effizienten und ressourcenschonenden Produktion spielt auch der Zugang zu Lebensmitteln eine wichtige Rolle. Dazu braucht es neben neuen Technologien auch mehr Kaufkraft bzw. dort, wo diese schon hoch ist, Änderungen im Verhalten. Während ein Teil der Menschheit an Nahrungsmittelunterversorgung leidet, gibt es einen wachsenden Teil der Menschheit, der an den Folgen von Nahrungsmittelüberversorgung leidet und übergewichtig ist. Technologie hilft bei der zweiten Herausforderung nur bedingt weiter, hier sind Verhaltensänderungen bei den Konsumenten wichtig.
Inwiefern können technische Lösungen einen Beitrag für eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung leisten? Welche sind das?
Technologien können zum Beispiel helfen, Lebensmittelabfälle zu reduzieren und tierische Proteine durch pflanzliche zu ersetzen. Alternativ können Futtermittel, die zum Beispiel aus Insekten oder Algen gewonnen werden, helfen, den ökologischen Fußabdruck der Fleischproduktion zu verringern. Technische Lösungen sind wichtig, sie werden aber nicht ausreichen.
Wie stehen die Konsumenten zu technischen Prozessen in der Nahrungsmittelherstellung? Was akzeptieren und wünschen sie, was lehnen sie ab? Welche Gründe sind dafür bekannt?
Konsumenten wollen sichere Lebensmittel. Für die meisten ist die Produktion von Lebensmitteln aber eine Black Box. Deshalb sind die Konsumenten gegenüber der Lebensmitteltechnologie sehr kritisch eingestellt und haben eine klare Präferenz für „natürliche“ Lebensmittel. Es müssen Technologien entwickelt werden, die den Wunsch der Konsumenten nach mehr Natürlichkeit erfüllen.
Was ist Ihre persönliche Meinung: Brauchen wir prozessierte Lebensmittel?
Käse, Bier oder Sauerkraut sind prozessierte Lebensmittel. Die Menschen essen seit Jahrhunderten verarbeitete Lebensmittel, diese sind nicht prinzipiell neu oder schlecht. Viele der verarbeiteten Lebensmittel, die wir heute in den Kaufregalen finden, sind aber energiedicht und enthalten oftmals viel Zucker und Salz. Sie sollten daher in gesundem Maß konsumiert werden.
Welche Aufgaben erfüllt das World Food System Center? Was sind seine wichtigsten Erfolge?
Das World Food System Center dient als Plattform, um die multidisziplinäre Expertise unserer Mitglieder mit strategisch relevanten externen Partnern zusammenzubringen. Unsere Arbeit konzentriert sich auf drei Kernbereiche: Forschung, Bildung und Öffentlichkeitsarbeit. Die Forschungsaktivitäten unserer Mitglieder tragen dazu bei, Wissen von Relevanz für Gesellschaft, Politik, Industrie und gemeinnützige Organisationen aufzubauen. Sie bildet die Basis, um zukünftige Entscheidungsträger mit dem erforderlichen Wissen und den Fähigkeiten auszustatten, um eine entscheidende Rolle im Aufbau nachhaltiger Lebensmittelsysteme zu spielen. Seit unserer Gründung konnten wir im Rahmen unserer Forschungsprogramme über 30 disziplinübergreifende und lösungsorientierte Forschungsprojekte zur Bewältigung der Herausforderungen des Lebensmittelsystems unterstützen sowie sieben internationale Summer-School-Kurse und unzählige öffentliche Veranstaltungen mit verschiedenen Partnern durchführen.
Ein Blick voraus: Welche Aspekte werden die Nahrungsmittelversorgung in den kommenden 50 Jahren prägen?
Es ist schwierig, so weit in die Zukunft zu blicken. In den kommenden Jahren werden uns aber Aspekte wie die fortschreitende Urbanisierung und der Anstieg der globalen Mittelschicht beschäftigen. Daneben werden uns die teilweise noch unklaren Konsequenzen des Klimawandels, die Qualität der natürlichen Ressourcen und die zu erwartenden großen Umwälzungen der Ernährungssysteme auf dem afrikanischen Kontinent – der Weltregion mit dem höchsten Bevölkerungswachstum sowie den stärksten sozialen und demographischen Umwälzungen – stark beschäftigen. Das Konsumverhalten wird durch die wichtigen Trends Natürlichkeit, Convenience, Individualität, Transparenz und Sicherheit beeinflusst werden.
Die Frage, wie man die Welt so ernähren kann, dass menschliche Gesundheit, ökologische Nachhaltigkeit und soziales Wohlbefinden gewährleistet sind, ist eine der wichtigsten und größten globalen Herausforderungen unserer Zeit. Das World Food System Center, ein Verbund von 41 Forschungsgruppen der ETH Zürich, wurde 2011 aus der Überzeugung heraus gegründet, dass zur Bewältigung der großen Herausforderungen im Ernährungssystem eine enge Zusammenarbeit verschiedener Akteure entlang der gesamten Lebensmittel-Wertschöpfungskette erforderlich ist. Das Center unterstützt multi- und transdisziplinäre Ansätze zur Bewältigung dieser Herausforderungen durch Forschung, Bildung und Öffentlichkeitsarbeit. Es trägt somit zur nachhaltigen Ernährungssicherheit bei.