Infrastruktur | 11. Januar 2023
Der 900-Megawatt-Akku in den Walliser Alpen
ABB-Prozessleittechnik fĂŒr Nant de Drance
Das Pumpspeicherkraftwerk Nant de Drance in den Walliser Alpen wurde im September 2022 eingeweiht. Mit seiner Leistung, die annĂ€hernd jener des KKW Gösgen entspricht, kann es viel zur Versorgungssicherheit im Stromnetz der Schweiz beitragen â mit Prozessleittechnik und Mittelspannungsanlagen sowie weiteren Lösungen von ABB.
Nach einer fĂŒnfminĂŒtigen Autofahrt durch einen nebligen Tunnel tief im Berg erreicht man die Maschinenkaverne von Nant de Drance. Sie weist mit einer LĂ€nge von fast 200 Metern und einer Höhe von mehr als 50 Metern Ausmasse wie der Petersdom in Rom auf â rund 600 Meter unter der OberflĂ€che realisiert.
Sechs Pumpturbinen mit je 150 MW Leistung
Hier sind sechs Pumpturbinen mit einer Leistung von je 150 Megawatt installiert. Sie können Wasser zur Stromgewinnung turbinieren und ebenso Wasser wieder hochpumpen. Das leisten sie zwischen dem höher gelegenen Stausee Vieux Emosson und dem unteren, grösseren Stausee Emosson in einem weitgehend geschlossenen Kreislauf; Vieux Emosson hat nur kleinere BergbĂ€che als ZuflĂŒsse.
Damit wirkt das Anfang September 2022 von BundesrÀtin Simonetta Sommaruga feierlich eingeweihte Pumpspeicherkraftwerk Nant de Drance, gut zehn Kilometer westlich von Martigny gelegen, als riesige, stetig wiederaufladbare Batterie.
FĂŒr die Stabilisierung des Stromnetzes konzipiert
Im Stromnetz mĂŒssen Produktion und Verbrauch grundsĂ€tzlich im Gleichgewicht sein. Die Stromproduktion von Solar- und Windkraftanlagen ist naturgemĂ€ss schwankend. Im Zuge der Energiewende werden immer mehr dieser Anlagen in das Stromnetz eingebunden, allmĂ€hlich auch in der Schweiz. Der Verbrauch war im Tagesverlauf schon immer uneinheitlich, wobei die Nachfragespitzen besser planbar sind.
«FĂŒr diesen Ausgleich wurde Nant de Drance konzipiert», erklĂ€rt Jean-Daniel Dayer, Verantwortlicher fĂŒr die Leittechnik in dem Pumpspeicherkraftwerk. «Wir können jederzeit Strom ins Netz einspeisen â bis zu 900 Megawatt. Den Volllast-Turbinenbetrieb erreichen wir in wenigen Minuten.» DafĂŒr wird Wasser aus Vieux Emosson durch zwei 441 Meter hohe vertikale SchĂ€chte dem unterirdischen Kraftwerk zugefĂŒhrt.
Theoretisch drei Stunden lang die ganze Schweiz versorgen
Ist der obere Stausee voll, könnte diese enorme Leistung knapp 20 Stunden lang eingespeist werden. Rein theoretisch entspricht die dabei generierte Energie dem gesamten Stromverbrauch der Schweiz von drei Stunden. Oder anders ausgedrĂŒckt: Damit liessen sich rund 400’000 moderne Elektroautos vollstĂ€ndig aufladen.
Ăbersteigt die Stromproduktion die Nachfrage, kann das Kraftwerk diesen ĂŒberschĂŒssigen Strom speichern. DafĂŒr schalten die Generatoren in den Motorbetrieb um und pumpen das Wasser aus Emosson wieder nach Vieux Emosson hoch. Der Wechsel vom Turbinen- auf Pumpbetrieb lĂ€sst sich in weniger als acht Minuten realisieren. Ăber 2 Milliarden Franken haben die AktionĂ€re der Nant de Drance SA â Alpiq, SBB, IWB und FMV â in dieses Pumpspeicherkraftwerk investiert.
«800xA ist das ĂŒbergeordnete Prozessleitsystem, ĂŒber das beispielsweise die Maschinengruppen â also die Pumpturbinen mit ihren Generatoren â angefahren beziehungsweise ausgeschaltet werden.»
Leitsystem 800xA von ABB installiert
Diese gewaltige Anlage muss zuverlĂ€ssig gesteuert und ĂŒberwacht werden. Das dafĂŒr konzipierte Los Prozessleittechnik gewann in der öffentlichen Ausschreibung ABB Schweiz Ende 2014. «Unsere Lösung basiert auf dem Leitsystem 800xA», erklĂ€rt Thomas Benz, Projektleiter seitens ABB Schweiz. ABB ist die weltweite Nummer 1 bei Prozessleitsystemen, mit einer installierten Basis von rund 35â000 Systemen in mehr als 100 LĂ€ndern.
«800xA ist das ĂŒbergeordnete Prozessleitsystem, ĂŒber das beispielsweise die Maschinengruppen â also die Pumpturbinen mit ihren Generatoren â angefahren beziehungsweise ausgeschaltet werden», so Benz. Im Normalfall erfolgt das ferngesteuert aus der Alpiq-Zentrale in Lausanne. Vor Ort sind bloss ein gutes Dutzend FachkrĂ€fte fĂŒr den routinemĂ€ssigen Unterhalt des riesigen Kraftwerks stationiert.
Zahlreiche Schnittstellen programmiert
«Ăber unser Leitsystem laufen nicht nur die Befehle zu Steuerung, Regelung und Schutz der Maschinengruppen, sondern auch Daten zur Bedienung. Ăberwachung, Visualisierung und Alarmierung bezĂŒglich all der weiteren Haupt-, Hilfs- und Nebenanlagen hier, vom Generatorschalter ĂŒber den KĂŒhlwasserkreislauf bis zur Messung des Pegelstands in den Stauseen», erklĂ€rt Benz. DafĂŒr mussten Schnittstellen zur Datenkommunikation mit den untergeordneten Prozesssteuerungen und Steuerungssystemen anderer Loslieferanten definiert und programmiert werden.
«800xA funktioniert als Prozessleitsystem fĂŒr unser Kraftwerk gut», zieht Jean-Daniel Dayer ein erstes Fazit, wenige Wochen, nachdem alle sechs Maschinengruppen erstmals unter Volllast liefen. «In der Kommunikation ĂŒber manche Schnittstellen gibt es noch einzelne â nicht kritische â VerstĂ€ndigungsprobleme, die noch behoben werden.»
Auch Mittelspannungsanlagen und Synchronisiersystem von ABB
FĂŒr dieses Pumpspeicherwerk hat ABB weitere Lösungen und Anlagen geliefert. So beschaffte die Nant de Drance SA von unserem Unternehmen die nötigen Mittelspannungs-Schaltanlagen, insgesamt ĂŒber 70 Felder. FĂŒr das automatische Synchronisieren der sechs Generatoren mit der Netzfrequenz sorgen sechs Synchrotact 5 von ABB. Auch die Generatorschalter und die Maschinentransformatoren lieferte ABB, bevor der GeschĂ€ftsbereich Power Grids, zu deren Portfolio sie gehören, verkauft wurde.
FĂŒr das Leitsystem hat die Nant de Drance SA einen dreijĂ€hrigen Servicevertrag mit ABB Schweiz geschlossen. Die VerfĂŒgbarkeit dieses Pumpspeicherkraftwerks hat fĂŒr die Betreiber oberste PrioritĂ€t. Nicht erst, seit Strom zur potenziellen Mangelware und die Strompreise sehr volatil mit deutlichen AusschlĂ€gen nach oben geworden sind. Der Akku in den Walliser Bergen wird 80 Jahre lang oder noch lĂ€nger zur Versorgungssicherheit der Schweiz beitragen. Erst recht, wenn die neu geplanten riesigen Solarkraftwerke in den Alpen ans Netz gehen