| 30. April 2015

Sicherheit auf ganzer Linie

Die mannigfaltigen Aspekte sicheren Arbeitens im industriellen Umfeld

Frei von unvertretbaren Risiken und Gefahren – das bedeutet Sicherheit. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. In der Praxis umfasst der Begriff viele Aspekte. Sie reichen von Arbeitssicherheit ĂŒber den bestimmungsgemĂ€ssen Betrieb von Maschinen bis hin zu sicheren Prozessen in der Automation. JĂŒngstes Beispiel fĂŒr die Expertise von ABB auf diesem Feld ist YuMi. Der Zweiarm-Roboter arbeitet Hand in Hand mit Menschen an den gleichen Aufgaben.

Das Bild lÀsst schaudern: In 4620 Metern Höhe balanciert Stephan Siegrist auf einer drei Zentimeter breiten Slackline direkt unter dem Gipfel der Dufourspitze. GefÀhrlich? «Was ich mache, wirkt oft viel wilder und wahnsinniger, als es von innen gesehen ist», sagt der Schweizer Profi-Alpinist in einem Interview mit der Berner Zeitung. Sicherheit scheint subjektiv und eine Frage des Blickwinkels zu sein. Gleichzeitig sagt Stephan Siegrist aber auch: «SorgfÀltige RisikoabschÀtzung ist Teil meines Berufs.» An der Dufourspitze sichern ein Klettergurt samt Schlinge und Karabiner zusammen mit einem unter dem Balancierband verlegten Kletterseil den Sportler.

In Unternehmen und Betrieben geht es weniger um die Frage des individuellen SicherheitsbedĂŒrfnisses. Sondern es geht darum, jenes Mass von Sicherheit zu erreichen, das notwendig ist, um die Situation frei von unvertretbaren Risiken zu halten. Dabei bleibt Sicherheit ein Zustand relativer Gefahrenfreiheit, der stets nur fĂŒr einen bestimmten Zeitraum, eine bestimmte Umgebung oder unter bestimmten Bedingungen gegeben ist. Im Extremfall können sĂ€mtliche Vorkehrungen durch einen Meteoriteneinschlag zu Fall gebracht werden. Sicherheitsmassnahmen können BeeintrĂ€chtigungen nicht vollstĂ€ndig ausschliessen, sondern sie nur bestmöglich abwehren oder hinreichend unwahrscheinlich machen.

fokus-wahrscheinlichkeiten-745x1007

Maschinenrichtlinie als Basis

Auf der Basis dieser Definition von Sicherheit werden Regelungen fĂŒr die Praxis entwickelt. FĂŒr Maschinen in der Produktion ist beispielsweise seit Ende 2009 die europĂ€ische Maschinenrichtlinie in der Fassung 2006/42/EG verbindlich – auch in der Schweiz. Sie enthĂ€lt grundlegende Sicherheits- und Gesundheitsschutzanforderungen fĂŒr das Inverkehrbringen von Maschinen. Um juristisch wirksam zu sein, muss die Maschinenrichtlinie in nationales Recht umgesetzt werden.

In der Schweiz wurde die neue Maschinenrichtlinie in eine eigens dafĂŒr geschaffene Maschinenverordnung (MaschV) eingebunden, die seit Ende 2009 gĂŒltig ist. Maschinen, die unter die Maschinenrichtlinie fallen, mĂŒssen den grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen gemĂ€ss Anhang 1 der Richtlinie genĂŒgen. Ziel ist es, Unfallrisiken wĂ€hrend der gesamten Lebensdauer der Maschine auszuschliessen. Dabei ist nicht nur der bestimmungsgemĂ€sse Gebrauch zu berĂŒcksichtigen, sondern es sind auch die Anforderungen zu betrachten, die sich aus vorhersehbarem Fehlgebrauch ergeben.

Aufgrund der Maschinenrichtlinie ist der Maschinenhersteller per Norm gefordert, die Ausfallwahrscheinlichkeit der Sicherheitsfunktionen einer Maschine zu bewerten und zu berechnen. Die notwendigen Kennwerte der sicherheitsbezogenen Komponenten werden von den Komponentenherstellern zur VerfĂŒgung gestellt. Auf der Grundlage dieser Kennwerte kann der Anwender den Performance Level (PL oder den Safety Integrity Level (SIL) seiner sicherheitstechnischen Schaltung ermitteln.

«Mit YuMi stehen wir am Beginn einer neuen Phase der industriellen Automation.»

Kultur und FĂŒhrungsaufgabe

So wichtig wie die Sicherheitsfunktionen einer Maschine sind die Sicherheit und das Verhalten derer, die sie bedienen. «Wir sind uns im Klaren darĂŒber, dass Arbeitssicherheit ein Reifeprozess ist, der gelebt werden muss», sagt Remo KĂŒry, Leiter Sustainability & Security von ABB Schweiz. «Gerade weil immer ein Restrisiko bleibt und es keine absolute Sicherheit gibt, ist es wichtig, möglichst prĂ€ventiv vorzugehen.» Als Konsequenz hat ABB Arbeitssicherheit zur FĂŒhrungsaufgabe erklĂ€rt – jede FĂŒhrungskraft, vom Vorstandsmitglied bis zum Vorarbeiter, nimmt an Seminaren zur Arbeitssicherheit teil und trĂ€gt so zur Kultur der Sicherheit bei. Dabei betrachtet ABB das eigene BetriebsgelĂ€nde und die ArbeitsplĂ€tze sowie den Einsatz von ABB-Mitarbeitenden bei Kunden bezĂŒglich UnfallgefĂ€hrdungen und Ergonomie. «Pro Projekt wird ein Health-&-Safety-Plan erstellt», sagt KĂŒry. «Darin werden die einzelnen GefĂ€hrdungen – wie Arbeiten in der Höhe oder Arbeiten in der NĂ€he spannungsfĂŒhrender Teile – beurteilt und die notwendigen Massnahmen geplant.»

Das Team ist der Star

ABB hat sich mit dem «Code of Practice for Safe Working» eine Guideline als Minimalstandard gegeben. Dies ist vor allem fĂŒr die weltweiten EinsĂ€tze wichtig. In weniger entwickelten LĂ€ndern, in denen die gesetzlichen Anforderungen oder ĂŒblichen Richtlinien die Forderungen des Codes of Practice nicht erfĂŒllen, gilt bei ABB die eigene Guideline. Das kann zur Folge haben, dass ABB vor Ort Massnahmen umsetzt, die in dem betreffenden Land noch nicht Standard sind.

«Vorhandene GefĂ€hrdungen erkennen die Betroffenen am besten. Die Risikobewertungen sind deshalb ebenfalls mit einem Team von Betroffenen vorzunehmen», sagt KĂŒry. «Das Team kennt die eigene Situation am besten – und die Akzeptanz der selbst abgeleiteten Massnahmen ist immer besser.»

Zum Erkennen der Risiken auf Baustellen und im ServicegeschĂ€ft hat ABB den Prozess «Stop & Check» eingefĂŒhrt. Damit verschaffen sich die ABB-Mitarbeitenden jeweils vor Arbeitsbeginn – per Checkliste, ĂŒber die entsprechende App auf dem Smartphone oder ĂŒber die entsprechende SAP-Funktion – einen Überblick ĂŒber die Situation, um allfĂ€llige Gefahren erkennen und eliminieren zu können. Die AktivitĂ€ten der vergangenen Jahre zeigen Wirkung. Von 2008 bis 2013 haben sich die Unfallzahlen bei ABB halbiert.

YuMi sieht durch sein prĂ€zises Visionssystem und fĂŒhlt durch seine empfindliche Sensorik. Sicherheit ist in der FunktionalitĂ€t des Roboters integriert und ermöglicht eine gefahrlose Zusammenarbeit von Mensch und Roboter

You and me – together

Viele Herausforderungen der Arbeitssicherheit erfordern eine Lösung in Form konkreter Produkte – entweder solche, die als Sicherheitselement fĂŒr Sicherheit sorgen, oder solche, die durch ihre inhĂ€rente, also ihnen innewohnende, Sicherheit SchĂ€den vermeiden. Das neue, einzigartige Musterbeispiel fĂŒr inhĂ€rente Sicherheit ist der von ABB zur Hannover Messe 2015 vorgestellte kollaborative Roboter YuMi. Der Name «YuMi» steht fĂŒr «you and me – wir arbeiten zusammen».

YuMi wurde entwickelt, um auf die flexiblen Fertigungsanforderungen in der Elektronikindustrie reagieren zu können. YuMi ist ein zweiarmiger Montageassistent mit der FĂ€higkeit, ĂŒber ein prĂ€zises Visionssystem zu sehen und durch empfindliche Sensorik zu fĂŒhlen. Seine gepolsterten Arme gewĂ€hrleisten die sichere Zusammenarbeit zwischen Mensch und Roboter – auch dank der innovativen Kraft- und Drehmomentsensorik. Die Sicherheit ist in der FunktionalitĂ€t des Roboters integriert und ermöglicht eine gefahrlose Zusammenarbeit von Mensch und Roboter – Seite an Seite, ohne Schutzgitter. Der TÜV SÜD hat bestĂ€tigt, dass YuMi die einschlĂ€gigen Sicherheitsnormen und die Maschinenrichtlinie erfĂŒllt.

Neue Phase der Automation

«Viele Annahmen ĂŒber Fertigungsverfahren und Industrieprozesse wird man dank YuMi ĂŒberdenken mĂŒssen», sagt Steven Wyatt, Marketing and Sales Manager Robotics bei ABB. «YuMi bietet vielfĂ€ltige neue Einsatzmöglichkeiten. Mit ihm stehen wir am Beginn einer neuen Phase der industriellen Automation.» YuMi verfĂŒgt bereits ĂŒber reale Produktionserfahrung und wurde im Vorfeld der MarkteinfĂŒhrung in unterschiedlichen Anwendungsfeldern ausgiebig getestet – sowohl in der Zusammenarbeit mit ausgewĂ€hlten Blue-Chip-Unternehmen als auch im eigenen Haus. So fertigten beispielsweise bei der Produktion von Not-Aus-Schaltern und Doppelsteckdosen zwei YuMi-Roboter und zwei Arbeiter in echter Kooperation bis zu zehn Teile in 220 Sekunden. Die Arbeit mit dem YuMi-Roboter zeichnet sich durch ihre FlexibilitĂ€t aus, die ein agiles Produktionsszenario schafft, das ohne hohe Investitionskosten fĂŒr zusĂ€tzliche Automatisierung und Sicherheitstechnik realisiert werden kann.

Hans-Dieter Meissner zeigt ein UFES-PrimĂ€rschaltelement im Querschnitt: Im Ereignisfall treibt ein Mikro-Gasgenerator den beweglichen Kontakt ĂŒber die Schaltstrecke in den Festkontakt.

Produktionsfreundlicher Schutz

Eine wichtige Rolle im Sicherheits-Portfolio von ABB spielen die Produkte von Jokab Safety. Das 1988 in Schweden gegrĂŒndete Unternehmen ist seit 2010 Teil von ABB. Das Sortiment bietet alle Arten von UnfallschutzgerĂ€ten, die es leicht machen, Sicherheitsfunktionen zu realisieren – von der kleineren Insellösung bis zu kompletten Sicherheitssystemen als produktionsfreundliche Lösungen fĂŒr einzelne Maschinen oder ganze Fertigungsstrassen.

«Der aktive Störlichtbogenschutz detektiert den Fehler bereits beim Entstehen.»

Aktiv statt passiv

Beim Schutz von Personen und Anlagen spielt die Vermeidung von StromunfĂ€llen und SchĂ€den durch Störlichtbögen eine wichtige Rolle. Konstruktive Systeme können eine begrenzte passive Sicherheit gewĂ€hrleisten, indem sie beispielsweise die bei einem Störlichtbogenfehler entstehenden heissen Gase gefĂŒhrt ausleiten. «Sicherer und effizienter ist jedoch der aktive Störlichtbogenschutz, denn er detektiert den Fehler bereits beim Entstehen», sagt Hans-Dieter Meissner, Produktmarketing-Manager bei ABB Stotz-Kontakt. «In der Niederspannung setzen wir seit ungefĂ€hr drei Jahren auf eine Kombination aus dem LichtbogenwĂ€chter TVOC-2 und dem UFES, der zudem auch in der Mittelspannung eingesetzt wird, fĂŒr die er ursprĂŒnglich entwickelt wurde.»

Werkseitig kalibriert

Der LichtbogenwĂ€chter TVOC-2 ĂŒberwacht mit bis zu 30 optischen Sensoren pro GerĂ€t potenziell gefĂ€hrdete Stellen der Schaltanlage. «Die Detektoren unserer LichtbogenwĂ€chter sind werkseitig konfektioniert und kalibriert. Deshalb können sie von jedem Schaltanlagenbauer rasch und effizient installiert werden», sagt Hans-Dieter Meissner. Im Ereignisfall wirkt der TVOC-2 in weniger als 1,6 ms auf den Leistungsschalter und schaltet ihn ab. Durch die bauartbedingte Eigenzeit eines Niederspannungsleistungsschalters ergibt sich eine Gesamtabschaltzeit von 30 bis 70 ms. Damit erreicht die Lösung einen deutlich erhöhten Bediener und begrenzenden Anlagenschutz.

Eine noch wesentlich grössere Schutzwirkung lĂ€sst sich durch eine Kombination mit dem Ultraschnellen Erdungsschalter UFES realisieren. Die UFES-Elektronik identifiziert einen Störlichtbogenfehler optisch und durch eine Momentanstromwertmessung. Sind die Kriterien fĂŒr eine Auslösung erfĂŒllt, gibt die UFES-Elektronik ein Auslösesignal an drei UFES-PrimĂ€rschaltelemente, die einen dreiphasigen metallischen Kurzschluss einleiten. Dadurch bricht die Störlichtbogenspannung zusammen, der Bogen verlöscht. Von der Erfassung bis zur Verlöschung benötigt der UFES weniger als 4 ms – das ist das heute technisch Machbare beim Schutz von Personen, Schaltanlage und Schaltanlagenumfeld. Diese Leistung ist inzwischen ein weiteres Mal formal bestĂ€tigt worden: Die externe PrĂŒfinstanz VdS SchadenverhĂŒtung hat Effizienz und ZuverlĂ€ssigkeit des UFES im Februar 2015 zertifiziert.

Unter Spannung

Smissline TP ist nicht weniger als das sicherste Stecksystem der Welt. Es erlaubt als weltweit erstes Stecksystem das lastfreie Auf- und Entstecken von GerĂ€ten unter Spannung – ohne zusĂ€tzliche persönliche SchutzausrĂŒstung gegen elektrische GefĂ€hrdung. «Das eröffnet ganz neue Perspektiven in Sachen Installation, Betrieb und FlexibilitĂ€t», sagt Manfred Sontheimer, Leiter des Produktbereichs DIN-Rail Produkte bei ABB Schweiz. Die GerĂ€te fĂŒr die vier Schutzfunktionen Leitungsschutz, Fehlerstromschutz, Motorschutz und Überspannungsschutz werden bei Smissline TP direkt auf das Stecksystem gesteckt. «Nach der MarkteinfĂŒhrung 2011 haben unsere Kunden sehr positiv reagiert», sagt Manfred Sontheimer. «Die Möglichkeit, unter Spannung arbeiten zu können, ist vor allem in Critical-Power-Situationen wie in Rechenzentren oder KrankenhĂ€usern ein grosser Vorteil.»

Sicherheit in der Prozessindustrie

Ein Bereich, in dem seit Langem ein grosses Bewusstsein fĂŒr Sicherheit herrscht, ist die Prozessindustrie und hier insbesondere die Öl- und Gas- sowie die chemische Industrie. DieseIndustrien waren in den vergangenen Jahrzehnten die wichtigsten treibenden KrĂ€fte fĂŒr die Entwicklung von Safety-Konzepten. Zwischenzeitlich werden aber auch immer mehr Anlagen in anderen Branchen mit sogenannten Safety Instrumented Systems (SIS) ausgerĂŒstet. Mit der wachsenden Akzeptanz intelligenter AusrĂŒstungen benötigt die Prozessindustrie eine engere Integration ihrer Safety- und Automatisierungssysteme, Safety-Funktionen fĂŒr verschiedene ProzesszustĂ€nde sowie FlexibilitĂ€t, Skalierbarkeit und Wiederverwendbarkeit ihrer Safety-Komponenten.

Moderne SIS zeichnen sich durch ModularitĂ€t und Skalierbarkeit aus und integrieren zwei zuvor unabhĂ€ngige Automationsplattformen, die Sicherheit und die Prozesssteuerung, zu einem einzigen, funktional aber getrennten System. Durch die gemeinsame Umgebung fĂŒr die Produktionsautomatisierung und die Safety- und ProduktionsĂŒberwachung verbessern diese SIS die ProzessverfĂŒgbarkeit und mindern gleichzeitig die Risiken im gesamten Anlagenbetrieb. ABB liefert und installiert seit mehr als 30 Jahren fehlertolerante, programmierbare Safety-Systeme fĂŒr die Prozessindustrie. Mit der ersten Installation eines solchen Systems im Jahr 1979 zĂ€hlt das Unternehmen zu den Pionieren auf diesem Gebiet.

Seitdem fĂŒhrte ABB verschiedene Generationen von Safety-Systemen ein, die durch eine Reihe technischer Lösungen charakterisiert wurden: von doppelt redundanten modularen Safety-Systemen ĂŒber dreifach redundante modulare Plantguard-Systeme bis zum SIL3-zertifizierten System 800xA High Integrity mit der Option einer Quadkonfiguration.

Über den ganzen Lebenszyklus hinweg

Um ĂŒber den ganzen Lebenszyklus hinweg eine sichere Anlage zu gewĂ€hrleisten, mĂŒssen die in der Gefahren- und Risikoanalyse identifizierten Sicherheitskreise periodisch getestet werden. ABB kann mit zertifizierter Kompetenz, Erfahrung und der notwendigen Testdokumentation aus einer Hand unterstĂŒtzen.