Interview | 20. Juli 2016
âEin Jahr frĂŒher als geplantâ
Andreas Meyer im Interview
Was bedeutet die Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels fĂŒr die SBB?
Wir sind stolz und freuen uns, von Ende 2016 an den lĂ€ngsten Eisenbahntunnel der Welt zu betreiben. Dass wir den Tunnel im Budget und sogar ein Jahr frĂŒher als ursprĂŒnglich geplant eröffnen können, ist nicht zuletzt Ausdruck des guten Schweizer Projektmanagements, das ich auch aus meiner Zeit bei ABB kenne. Das Jahrhundertbauwerk verdeutlicht zudem, was wir mit ZuverlĂ€ssigkeit, Innovation und partnerschaftlicher Zusammenarbeit erreichen können. Das haben nicht zuletzt die vielen Tausend Mitarbeitenden der SBB bewiesen, die an der Inbetriebnahme des Tunnels beteiligt sind. Mit dem Basistunnel schreiben wir am Gotthard einmal mehr Verkehrsgeschichte. Die Eröffnung ist deshalb auch eine ideale Gelegenheit, um nach vorne zu schauen und sich mit den kĂŒnftigen Entwicklungen der MobilitĂ€t auseinanderzusetzen.
Und fĂŒr den europĂ€ischen Bahnverkehr?
Der Gotthard-Basistunnel bringt Menschen und GĂŒter schneller an ihr Ziel. Die erneuerte Nord-SĂŒd-Achse Gotthard erhĂ€lt von Ende 2016 an einen deutlichen Leistungsschub. Mit der Inbetriebnahme des Ceneri-Basistunnels und des 4-m-Korridors erhĂ€lt sie voraussichtlich Ende 2020 ihre volle LeistungsfĂ€higkeit. Dann werden pro Tag rund 260 GĂŒterverkehrszĂŒge die Flachbahn durch die Alpen nutzen â fast 50 Prozent mehr als heute. Die Fahrzeit im Personenverkehr verkĂŒrzt sich zwischen ZĂŒrich und Mailand um bis zu eine Stunde. Die neuen Giruno-ZĂŒge, die wir 2019 in Betrieb nehmen, bieten ein komfortables Reiseerlebnis.
Welche Auswirkungen hat der Gotthard-Basistunnel auf das restliche Netz und die KapazitĂ€ten der SBB? Dient er eher der Entlastung oder wird er fĂŒr einen so starken Boom sorgen, dass anderweitig EngpĂ€sse zu befĂŒrchten sind?
Unser Schienennetz ist in der Tat das am intensivsten genutzte der Welt: Pro Hauptgleis verkehren jeden Tag ĂŒber 100 ZĂŒge â Tendenz steigend. Auf der Nord-SĂŒd-Achse Gotthard erwarten wir im Personenverkehr bis 2020 eine Verdoppelung der Nachfrage auf fast 20 000 Passagiere tĂ€glich. Dennoch: EngpĂ€sse sind wegen des Gotthard-Basistunnels aus heutiger Sicht nicht zu befĂŒrchten. Dank eines ausgeklĂŒgelten Betriebskonzepts werden wir die Nachfrage auf der Nord-SĂŒd-Achse bewĂ€ltigen können. Ein Signal- und Zugsicherungssystems der neuesten Generation sorgt dafĂŒr, dass von 2020 an pro Stunde und Richtung bis zu sechs GĂŒter- und zwei PersonenzĂŒge durch den Gotthard-Basistunnel fahren können.
Welche besonderen Aufgaben sind fĂŒr die SBB mit der Inbetriebnahme verbunden?
Die SBB ist verantwortlich dafĂŒr, dass tĂ€glich bis zu 260 GĂŒter- und 48 PersonenzĂŒge sicher, zuverlĂ€ssig und pĂŒnktlich auf der Flachbahn durch die Alpen verkehren. Bis zur Inbetriebnahme gibt es Millionen von Details zu regeln, Tausende von Nachweisen zu erbringen, akribische Testreihen durchzufĂŒhren und zahlreiche Bewilligungen zu erarbeiten. Dank enormen Einsatzes und ProfessionalitĂ€t ist die Inbetriebnahme auf Kurs; den Mitarbeitenden gebĂŒhrt deshalb grosser Dank.
Hat die SBB fĂŒr die Fahrt durch den neuen Basistunnel technische Neuerungen an den Fahrzeugen vornehmen mĂŒssen? Welche?
Wir haben unsere nationale Fahrzeugflotte fĂŒr die erhöhten Anforderungen im Gotthard-Basistunnel bereit gemacht. Bis Mitte 2016 wurden insgesamt 18 Intercity-NeigezĂŒge, 13 Lokomotiven Re 460, 119 Intercity-Wagen sowie 179 Strecken- und 15 Rangierlokomotiven von SBB Cargo umgebaut. Die Arbeiten betreffen vor allem den Brandschutz und die FĂŒhrerstandssignalisierung der neuesten Generation und bringen einen Sicherheitsgewinn auf dem ganzen SBB-Netz. Parallel dazu wurden rund 3900 Mitarbeitende von SBB, Drittbahnen und RettungskrĂ€ften geschult.
Der Gotthard ist in Zukunft kein Hindernis mehr â vor welchen anderen Hindernissen oder Herausforderungen stehen die SBB und der Bahnverkehr in Europa allgemein?
Der intermodale Wettbewerb, also der Wettbewerb zwischen den einzelnen VerkehrstrĂ€gern, nimmt zu. Kunden können Komfort und Preis-Leistungs-VerhĂ€ltnis immer besser vergleichen. Gleichzeitig steigen die Gesamtkosten der Bahnen, wĂ€hrend andere VerkehrstrĂ€ger mit Einsparpotenzialen von bis zu 50 % rechnen. Zudem steigt der Spardruck der öffentlichen Hand. Und: Regulatorische und raumplanerische Anforderungen an Bahnen sind hoch und steigen tendenziell eher noch, zum Beispiel aufgrund der Ăbernahme technischer Normen der EU oder verschĂ€rfter Auflagen bei öffentlichen Beschaffungen.
Wie werden sich der Bahnverkehr und unsere MobilitÀt in den kommenden Jahrzehnten Ihrer Ansicht nach entwickeln?
Neue Technologien bringen neue Lebens- und Arbeitsstile. Kunden wollen durchgĂ€ngige, einfache Angebote von TĂŒr zu TĂŒr. Schiene gegen Strasse war frĂŒher; in Zukunft werden die Kunden ihre MobilitĂ€t flexibel nach ihren ganz persönlichen â und wechselnden â BedĂŒrfnissen gestalten. Zudem tauchen neue Elemente in der MobilitĂ€tskette auf, wie Fernbusse und womöglich auch selbstfahrende Fahrzeuge. Diese haben das Potenzial, zum öffentlichen Individualverkehr zu werden und die LĂŒcke des öV auf der klassischen letzten Meile zu schliessen. Der GĂŒterverkehr wird zunehmend Konkurrenz erhalten durch umweltfreundliche, flexible Angebote auf der Strasse, etwa mit «Platooning», das heisst Fahren von Lastwagen mit geringem Abstand auf Autobahnen. Die MobilitĂ€t wird sich tief greifend verĂ€ndern â und diese VerĂ€nderungen kommen immer schneller.
Welche technischen Innovationen sehen Sie kommen?
Die Digitalisierung ist auch fĂŒr den öffentlichen Verkehr ein wichtiger Treiber. Sie erlaubt uns, die MobilitĂ€tsangebote immer besser entsprechend individuellen KundenbedĂŒrfnissen masszuschneidern. KĂŒnftige Generationen werden nicht mehr wissen, was ein Fahrplan ist. Ein mögliches Beispiel: Wenn Sie einen geschĂ€ftlichen Termin in einer anderen Stadt haben, werden mit Ihrem Kalendereintrag auch gleich Hin- und RĂŒckreise gebucht â und dies unter BerĂŒcksichtigung der jeweils geeignetsten VerkehrstrĂ€ger. Die Digitalisierung ermöglicht uns zudem, den Bahnbetrieb effizienter zu gestalten, wie unter anderem das Betriebskonzept des Gotthard-Basistunnels zeigt.
Zum Abschluss eine eher touristische Frage: Auf welchen Strecken der SBB und der Deutschen Bahn reisen Sie persönlich am liebsten?
Die liebsten Bahnstrecken sind jene, die mich mit der Familie oder mit Freunden zusammenbringen, mir schöne Sport- und Naturerlebnisse oder besondere Ereignisse oder GenĂŒsse ermöglichen â sei es eine Skitour im Wallis, ein Besuch bei meinen Eltern in Basel oder ein Mittagessen an einem regnerischen Tag im CafĂ© de Paris in Genf.