Fokus | 31. Dezember 2015

Im Verborgenen glänzen

Stetige Innovationen, hoher Wettbewerbsdruck und überragende Leistungsbereitschaft machen Weltmarktführer

Wenig bekannte, mittelständische Weltmarktführer – das ist die kurze Definition für Hidden Champions. Die Zusammenarbeit mit ihnen zeichnet sich durch hohe Ansprüche an Produkte, Flexibilität und Innovationsgeist aus. Dabei ist von Vorteil, dass ABB die gleiche DNA wie sie in sich trägt – die frühe BBC war mit ihren Dampfturbinen selbst ein Hidden Champion.

Sie heissen Herrenknecht, Desma, Flexi, Schuler oder PB SwissTools – schon einmal gehört? Wahrscheinlich eher nicht. Die Unternehmen sind Weltmarktführer und agieren doch häufig ohne grosse Öffentlichkeit. Im Erfolgsphänomen des deutschsprachigen Mittelstands stellen sie eine besonders interessante Facette dar: die Hidden Champions.

Sie alle zeichnet aus, dass ihre Produkte und Leistungen viel bekannter als sie selbst sind. Oder wer hätte gewusst, dass die Genannten den Weltmarkt für Tunnelbohrgeräte, Maschinen zur Direktansohlung von Schuhen, Hunderollleinen, Pressen und ergonomische Schraubendreher anführen?

«Die Hidden Champions werden durch drei Kriterien definiert: Sie müssen weltweit einer der Top 3 in ihrem Markt oder Nummer 1 auf ihrem Kontinent sein, weniger als fünf Milliarden Euro Umsatz machen und im Publikum relativ unbekannt sein», sagt Professor Hermann Simon, Chairman von Simon-Kucher & Partners, der das Phänomen Hidden Champions als erster systematisch untersucht hat. «In Kurzform: Hidden Champions sind wenig bekannte, mittelständische Weltmarktführer.» Weltweit gibt es knapp 3000 solcher Eliteunternehmen des Mittelstands. Überwältigende 1500 von ihnen sind in Deutschland beheimatet, etwas über 100 gibt es in der Schweiz. Hermann Simon hat ermittelt, dass Hidden Champions ein Phänomen darstellen, das es in so grosser Breite ausser in Deutschland nur noch in der Schweiz und in Österreich gibt. In diesen drei Ländern existieren ungefähr 15 Hidden Champions pro eine Million Einwohner; in Frankreich, den Vereinigten Staaten und Japan liegt dieser Wert nur zwischen eins und zwei. Für die Hidden Champions sind laut Hermann Simon die Ambition auf Marktführerschaft, Fokussierung und Globalisierung die drei wesentlichen Aspekte (siehe Interview).

Das duale Berufsbildungssystem spielt eine entscheidende Rolle für die Leistungsstärke der Hidden Champions.

Kompetenz seit Jahrhunderten

Für den Erfolg der Hidden Champions im deutschsprachigen Mitteleuropa sind auch historische Gründe verantwortlich: «Eine wichtige Rolle spielt, dass Deutschland bis 1918 kein Nationalstaat, sondern eine Ansammlung kleiner Länder war. Ein Unternehmer, der wachsen wollte, musste also sehr schnell internationalisieren», sagt Hermann Simon. Ein zweiter Grund seien historische Kompetenzen. So gab es im Schwarzwald seit Jahrhunderten eine Uhrenindustrie. Anders als in der Schweiz sei diese verschwunden, aber eine sehr leistungsfähige Medizintechnikbranche mit heute 450 Firmen daraus enstanden. Die feinmechanischen Kompetenzen aus der Uhrmacherei wurden in eine neue, stark wachsende Branche eingebracht. Die Schweizer sind in der historisch gewachsenen Uhrenindustrie bei der Stange geblieben. «Ähnliche Beispiele gibt es zu Dutzenden. So sind die 39 Messtechnikfirmen in Göttingen letztlich Spin-offs der dortigen mathematischen Fakultät, die über Jahrhunderte hinweg weltweit führend war», sagt Hermann Simon.

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Wettbewerb steckt an

Jenseits der historischen Gründe beruht die Leistungsstärke der Hidden Champions auf günstigen äusseren Bedingungen. Unter ihnen spielt das duale Berufsbildungssystem – eine der grossen Stärken des Wirtschaftsstandorts Schweiz – eine entscheidende Rolle. Denn weil die Hidden Champions überwiegend komplexe Produkte in hoher Qualität herstellen, benötigen sie bestens qualifizierte Mitarbeiter. Hermann Simon hat festgestellt, dass die Fluktuation bei den Hidden Champions bei 2,7 % liegt. Das ist etwa ein Drittel der durchschnittlichen Fluktuation in Deutschland und der Schweiz. Für das häufig regional geballte Auftreten der Hidden Champions sind Ansteckungseffekte verantwortlich. Wenn viele führende Firmen in einer Region sitzen, führt der enge Wettbewerb zwischen diesen starken Konkurrenten zur Weltklasse – ähnlich wie im Sport.

BBC setzt auf Dampfturbine

Für ABB erfordert die Zusammenarbeit mit Hidden Champions hohe Ansprüche an Produkte, Flexibilität und Innovationsgeist. Das sind Leistungen, die nicht nur für den Geschäftserfolg des heutigen Konzerns unabdingbar sind, sondern die er auch in seiner DNA aus Gründungszeiten in sich trägt – die damalige BBC war selbst ein Hidden Champion. Ausgangspunkt war im Jahr 1900 die Gründung einer Aktiengesellschaft mit dem Briten Charles Parsons, der eine neuartige, mit heissem Dampf angetriebene, mehrstufige Überdruckturbine für thermische Kraftwerke entwickelt hatte. Zunächst in der gemeinsamen AG, von 1912 an komplett auf eigenen Beinen, baute die BBC Dampfturbinen, deren Marktanteile rasch wuchsen. Bis 1902 fertigte die BBC bereits 17 Dampfturbinen; unter ihnen war auch das Modell, das damals mit 3 MW Leistung einen Weltrekord aufstellte. Im Geschäftsjahr 1899/1900 erreichte die Exportquote der knapp zehn Jahre alten BBC 75 %, was 57 % der schweizerischen Gesamtausfuhr an elektrischen Maschinen darstellte. Und bereits vier Jahre nach der Produktion der ersten Dampfturbine erwirtschaftete die BBC in diesem Segment die Hälfte des Umsatzes – Zahlen, die einen besonders erfolgreichen Hidden Champion ausweisen.

Vier für den Gotthard-Basistunnel

Ein Unternehmen versinnbildlicht die Leistungsstärke und die Rolle der Hidden Champions in besonderer Weise: Herrenknecht – dessen riesenhafte Tunnelbohrgeräte naturgemäss im Verborgenen glänzen. Die Produkte des Mittelständlers zählen zu den imposantesten Maschinen die jemals konstruiert wurden. Mit ihnen erreichte Herrenknecht in den vergangenen Jahren vielfach den ersten Platz in der Rangliste deutscher Hidden Champions. Der Bau des Gotthard-Basistunnels, der mit zwei Röhren von 57 km der längste Eisenbahntunnel der Welt sein wird, ist eines der spektakulärsten Projekte, an denen Herrenknecht beteiligt ist. Vier Maschinen von jeweils 9,58 m Durchmesser, 2700 t Gewicht und 3500 kW Leistung haben sich dafür durch die Alpen gebohrt. Herrenknecht und ABB verbindet eine langjährige Geschäftsbeziehung. «Wir beliefern Herrenknecht vor allem mit Leistungsschaltern vom Typ Tmax und Tmax XT sowie mit Softstarterpaketen», sagt Ron Kimmig, Vertriebsmitarbeiter bei ABB Stotz-Kontakt. «Herrenknecht hat keine technischen Einzelvorgaben von Seiten seiner Endkunden. Die Ingenieure konstruieren gemäß einer hauseigenen Standardisierung und setzen die Produkte ein, die ihre Ansprüche am besten erfüllen.»

Den längsten Eisenbahntunnel der Welt haben Maschinen mit 9,58 m Durchmesser, 2700 t Gewicht und 3500 kW Leistung gebohrt.

Beispiel Stadler Rail

«Unter den Kunden von ABB Schweiz sind Hidden Champions vergleichsweise selten; sie stehen aber immer für sehr spannende Partnerschaften», sagt Max Wüthrich, Leiter Verkauf ABB Schweiz. «Ein Beispiel dafür ist Stadler Rail. Wir haben gemeinsam im Kleinen die Entwicklung von Traktionstransformatoren und Leistungselektronikkomponenten begonnen. Heute ist Stadler Rail unser grösster Kunde in der Schweiz und ein bedeutender Anbieter von Schienenfahrzeugen im internationalen Markt.»

Immer wieder bekommt ABB als möglicher Partner die Gelegenheit, Erfindungen oder Innovationen zu prüfen, finanziell zu unterstützen oder diese Innovationen sogar einzugliedern. «Oft ist am Anfang solcher Geschäftsbeziehungen zu Hidden Champions nicht sicher, ob sich eine nachhaltige Zusammenarbeit entwickeln wird», sagt Max Wüthrich. «Für uns bedeutet ein Engagement, die Verantwortung nachhaltig zu übernehmen. Bei ABB war die Akquisition von Epyon, dem Hersteller von Schnellladestationen für Elektromobile, ein solcher Schritt.»

Obwohl ABB als Großunternehmen nicht in allen Punkten vom Beispiel der Hidden Champions lernen kann, sieht Max Wüthrich doch einige nachahmenswerte Qualitäten: «Das innovative Denken und Agieren im Kontext des Kundennutzens ist bei Hidden Champions beispielhaft. Hinzu kommen kurze Entscheidungswege, da das Management oft direkt mit involviert ist.»

Ikonen aus dem Emmental

Mit Schuler als weltweit größtem Pressenhersteller zählt ein weiterer mittelständischer Technologie- und Weltmarktführer zum Kundenkreis von ABB. Der Umformspezialist bietet neben Pressen auch Automationslösungen, Werkzeuge, Prozesstechnologie sowie Service für die metallverarbeitende Industrie und den automobilen Leichtbau. Seit über zehn Jahren setzt Schuler Frequenzumrichter von ABB ein. Sie steuern den Antrieb der größeren Pressenmodelle für die Automobilindustrie, die außerhalb der normalen Serie produziert werden.

Beim Unternehmen PB Swiss Tools übertrifft der Bekanntheitsgrad der Produkte den des dahinterstehenden Hidden Champions. Nachdem der damalige Schmiedebetrieb Baumann zunächst Schraubendreher mit Holzgriff fertigte, fiel im Jahr 1953 die epochale Entscheidung zur Anschaffung einer der damals in Europa noch kaum eingesetzten Spritzgussmaschinen – zum Preis eines halben Jahresumsatzes. Das Risiko lohnte sich: Der strapazierfähige Schraubendreher mit dem ergonomisch geformten, roten Griff und zeitlich unbegrenzter Garantie wurde rasch zum Exportschlager und gilt als eine Ikone Schweizer Industriedesigns. An den beiden Fertigungsstandorten von PB Swiss Tools arbeiten 18 Industrieroboter von ABB, die insbesondere zum Entladen der Spritzgussmaschinen benötigt werden.

Automation als Weltneuheit

Bereits seit 30 Jahren arbeiten Desma und ABB erfolgreich zusammen. Der weltweit führende Hersteller von Direktansohlungsmaschinen für Schuhe hat während dieser Zeit 1.200 Industrieroboter von ABB integriert. „Auf der Schuhmesse in Pirmasens zeigte Desma 1985 erstmals einen unserer Industrieroboter. Die Automation in der Schuhproduktion war damals eine Weltneuheit“, erläutert Marc Leidner, Leiter Business Line Gießerei/Schmieden und Kunststofftechnik bei der ABB Automation GmbH. Bei den heutigen Maschinen rauen die Roboter das Schuhleder auf, damit der PU-Schaum gut haftet. Zudembringen die Roboter ein Trennmittel in die Gussform ein, damit sich die vom Spritzgussaggregat eingebrachte und ausgehärtete Sohle gut herauslösen lässt. Desma produziert in Deutschland und beliefert Kunden weltweit, insbesondere in Asien, Südamerika, Russland und Europa. „Es hat sich als Vorteil erwiesen, dass ABB so international ist, wie es die Kunden von Desma sind“, sagt Marc Leidner. „Zudem hat sich im Laufe der vergangenen Jahre ein Vertrauensverhältnis ausgebildet, weil wir die Anforderungen in diesem Industriesektor mittlerweile gut kennen.“ Bei der Entwicklung der Steuerung IRC5 hat sich ABB bereits in einer frühen Phase mit Desma abgestimmt und spezielle Marktanforderungen der Schuhindustrie einfließen lassen. Daraus resultierte eine einfache Programmiermöglichkeit für die Interaktion von Mensch und Maschine sowie eine leicht verständliche Benutzeroberfläche für eine intuitive Steuerung über den Bildschirm. „Generell ist die Zusammenarbeit mit einem Hidden Champion sehr spannend, sowohl wegen der meist innovativen Projekte als auch wegen der hohen Schlagzahl, die so ein Unternehmen vorgibt“, sagt Marc Leidner. „Als größerer Partner besteht die Herausforderung für ABB darin, dieses Tempo bei technischen Fragen und Entscheidungen mitzugehen, um dem Kunden rasch optimale Lösungen anbieten zu können.“

„Als größerer Partner besteht die Herausforderung darin, dieses Tempo mitzugehen.“