| 14. Dezember 2015
Motor in drei Wochen nachgebaut
Replikation eines prozesskritischen 5,3-MW-Elektromotors in Rekordzeit
Die Geschäftseinheit Motoren & Generatoren von ABB Schweiz ist in der Lage, Elektromotoren präzise nach Kundenwunsch zu replizieren. Wie schnell sie das umsetzen können, bewiesen die Experten in Kleindöttingen in diesem Sommer mit dem Nachbau eines prozesskritischen 5,3-MW-Elektromotors für eine Raffinerie von Shell.
Wieso ein neues Modell eines Elektromotors anschaffen, wenn das alte seine Arbeit doch perfekt ausführt und lediglich das Ende seiner technischen Lebensdauer näher rückt? «Oft ist es rationeller, den genau gleichen, aber neuwertigen Motor in die Produktionslinie zu integrieren», erklärt Patrick Ulmer, Geschäftsführer Motoren & Generatoren von ABB Schweiz. «Mit den exakt gleichen Abmessungen, Anschlüssen und Leistungsdaten – die wir auf Wunsch aber auch optimieren können – wie beim bisherigen Motor ist ein Austausch innert kürzester Frist möglich. So wird auch das bewährte Gesamtsystem nicht aus der Balance gebracht.»
Leistungsfähige Elektromotoren stehen oft über Jahrzehnte im Einsatz. Nach all den Jahren werden allenfalls noch Nachfolgemodelle mit veränderten Eigenschaften und Abmessungen produziert.
«Wir können in Kleindöttingen alle existierenden Elektromotoren nachbauen; auch Motoren von Fremdanbietern, nicht nur jene aus ABB-/BBC-Produktion, zu denen wir rund 35 000 umfassende Dokumentensätze im Archiv haben», so Ulmer. Die Fachleute der im ABB-Verbund weltweit einzigartigen Geschäftseinheit für Service und Nachbau von Motoren sowie Generatoren verfügen über die nötigen Analyse- und Engineering-Kompetenzen. «Eigentlich existieren bloss zwei Einschränkungen: die Hebekraft unseres Krans von 80 t, und die maximal anlegbare Spannung in unserem Prüffeld von 16 kV Wechselstrom», prä- zisiert Axel Bindert, Leiter Technik dieser Geschäftseinheit in Kleindöttingen.
Identische Nachbauten gesucht
Das Know-how der Schweizer «Motorenmanufaktur» von ABB nutzt Shell. Für ihre grosse Raffinerie im niederländischen Pernis hatte der Energiekonzern eine Studie zu den Auswirkungen allfälliger Maschinendefekte durchgeführt. Dabei wurden sechs grosse Elektromotoren identifiziert, deren Ausfall besonders schwerwiegende, kostspielige Folgen für den riesigen Produktionsstandort bei Rotterdam hätte.
Für diese sechs unterschiedlichen, kritischen, zumindest 20 Jahre alten Motoren suchte Shell identische Nachbauten, um sie im Pannenfall unverzüglich anstelle des defekten Motors einsetzen und so den teuren Produktionsausfall beschränken zu können. Shell fand die Lösung bei ABB Motoren & Generatoren im Aargau und erteilte den Auftrag im Sommer 2014.
Der erste in Kleindöttingen produzierte Replikamotor wurde Anfang 2015 in die Niederlande geliefert. Der zweite sollte gemäss Rahmenauftrag Ende Juli folgen. «Im Frühling erörterten wir mit Shell die Möglichkeit, diesen für das Funktionieren der Raffinerie besonders wichtigen Motor möglichst rasch, noch im zweiten Quartal auszuliefern», blickt Tobias Wilke, Projektleiter des Shell-Auftrags, zurück.
Gefragt – getan. Beim nachzubauenden Motor handelt es sich mit dem WMT56 um einen rund 27 t schweren, mit über 5700 Umdrehungen pro Minute extrem schnell laufenden Elektromotor, der überdies zertifiziert explosionsgeschützt ist. Das Original fertigte BBC im Jahr 1986. Seit seiner Installation läuft er in Pernis nun seit fast 30 Jahren einwandfrei, rund um die Uhr.
«Oft ist es rationeller, den genau gleichen, aber neuwertigen Motor in die Produktionslinie zu integrieren.»
Im Takt und parallel gearbeitet
Am 3. Juni 2015 fiel in Kleindöttingen der Startschuss zur Fertigung. Ziel war es, die normalerweise sechs bis acht Wochen dauernde Produktionszeit zu halbieren. Einkauf und Logistik waren ebenso gefordert wie Arbeitsvorbereitung und Fertigung. «Wir arbeiteten möglichst im Takt und parallel. So war etwa einer unserer Mitarbeitetenden auf der einen Seite mit dem mechanischen Aufbau beschäftigt, während auf der anderen Seite gleichzeitig ein externer Fachmann die Ölverrohrung montierte», erklärt Ulmer.
Das Team arbeitete höchst motiviert an dem ungewöhnlichen Projekt, teilweise im Zweischichtbetrieb. Das alte Design wurde präzise nachgebaut, der Motor dem Stand der Technik angepasst und – wo möglich – verbessert. Insgesamt konnte im Vergleich zum Originalmotor eine höhere Qualität realisiert werden. Das ABB-Netzwerk half, Engpässe zu überwinden, etwa bei Design und Fertigung der Röbelstäbe.
Dank einer virtuosen Koordination und der erstmalig umgesetzten Taktarbeit bei der Fertigung eines Replikamotors gelang es tatsächlich, den Motor in rekordverdächtig kurzer Zeit fertigzustellen. Jedenfalls konnten die Kundenvertreter zur Fabrikabnahme am 22. und 23. Juni 2015 nach Kleindöttingen eingeladen werden.
Um die hohe Nominaldrehzahl des grossen Elektromotors zu erreichen, wurde sein Rotor im Prüffeld mechanisch auf Touren gebracht, er also generatorisch betrieben. «Dafür mussten wir noch rasch ein Werkzeug für den Anschluss der Kupplung entwerfen und fertigen», ergänzt Wilke mit einem Lächeln.
Einbau bei regulärem Unterbruch
Die Shell-Raffinierie in Pernis unterhält mit ABB Niederlande einen Servicevertrag. So wurde der Motor von den ABB-Kollegen an Lager genommen, um ihn im Fall einer Panne des Originals umgehend einzusetzen. Darüber hinaus ist geplant, die Replika in der nächsten geplanten Wartungsphase der Raffinerie einzubauen und den alten Motor als Notfallersatz an Lager zu nehmen.