Fokus | 25. April 2017
Der Weg in die Energiezukunft
Integration der Erneuerbaren ins Versorgungssystem
Sonne, Wind, Wasser – regenerative Energien sind weltweit auf dem Vormarsch und decken inzwischen einen signifikanten Teil des Strombedarfs. Ihre Integration ins bestehende Versorgungssystem ist gerade bei den wetterabhängigen Energieträgern eine Herausforderung, die innovative Lösungen erfordert.
Die fossilen Ressourcen gehen zur Neige, der weltweite Energiehunger wächst. Laut dem Ausblick des Rohstoffkonzerns BP wird der Energiebedarf bis 2035 um 30 % steigen. Gleichzeitig hat sich die internationale Staatengemeinschaft zum Klimaschutz verpflichtet. Um die CO2-Emissionen zu senken und ihre Abhängigkeit von Kohle, Öl und Erdgas zu verringern, setzen Länder rund um den Globus verstärkt auf erneuerbare Energien. So drehen sich auch am Rand der Wüste Gobi bereits Tausende Windenergieanlagen. Dort entsteht der chinesische Onshore-Windpark Gansu, der grösste weltweit, der bis 2020 eine installierte Leistung von 20 GW besitzen soll. Zum Vergleich: In der Nordsee geht im Jahr 2020 mit Hornsea Project One der grösste Offshore-Windpark in Betrieb, der künftig mit einer Leistung von 1,2 GW Strom für mehr als 1 Mio. Haushalte liefert. Ein weiteres Megaprojekt der nachhaltigen Energieerzeugung nimmt derzeit in Marokko Gestalt an. Nahe der Sahara entsteht das Sonnenwärmekraftwerk Noor, das rund 1,3 Mio. Menschen mit Strom versorgen soll.
Die Erneuerbaren legen zu
Durch Projekte wie diese hat sich die global installierte Gesamtleistung von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien in den vergangenen zehn Jahren nahezu verdoppelt und lag nach qualifizierten Schätzungen 2015 bei 1849 GW. Nach Berechnungen des Netzwerks deckt die nachhaltige Erzeugung aktuell 23,7 % des weltweiten Strombedarfs ab.
In Europa tragen regenerative Quellen nach Angaben von Agora Energiewende zu 29,6 % zur Stromversorgung bei; den Löwenanteil liefert mit 10,7 % die Wasserkraft.
Dieser weltweit meistgenutzte Energieträger spielt in der Schweiz mit 58,4 % traditionell eine grosse Rolle und trägt dazu bei, dass das Land seine Nachfrage nach elektrischer Energie bereits zu 59,5 % aus erneuerbaren Quellen decken kann. Im Zuge der Energiestrategie 2050 will die Regierung auch den Ausbau der «neuen» erneuerbaren Energieträger wie Wind, Sonne und Biogas vorantreiben, die derzeit knapp 4,5 % zur Versorgung beitragen. Bis 2035 soll die Stromproduktion aus diesen Quellen von derzeit 3 TWh auf mindestens 11,4 TWh steigen. In Deutschland sollen bis 2020 mindestens 35 % des Stroms nachhaltig erzeugt werden; bis 2050 ist ein Anteil von 80 % angepeilt. Aktuell steuert die nachhaltige Erzeugung knapp ein Drittel der benötigten elektrischen Energie bei.
Integration bei laufendem Betrieb
Damit befindet sich die Transformation des Energiesystems in einer entscheidenden Phase, die ganz im Zeichen der Markt- und Systemintegration der Erneuerbaren steht. Keine leichte Aufgabe, denn der Weg in die Energiezukunft ist ein Umbau bei laufendem Betrieb. An die Stelle weniger zentraler konventioneller Kraftwerke, die – häufig in der Nähe der grössten Verbraucher – berechenbar Strom für Haushalte und Industrie produzieren, treten mehr und mehr dezentrale Erzeuger, die wetterabhängig Strom einspeisen und zum Teil selbst Verbraucher sind.
Diese Anlagen mit ihren fluktuierenden Energieträgern müssen ohne Abstriche bei der Versorgungssicherheit ins System eingebunden werden. Bislang gelang das gut. Trotz des steigenden Anteils von Strom aus regenerativen Quellen im Netz schrumpfen die Ausfallzeiten in Deutschland. Diese hohe Verfügbarkeit lässt sich allerdings mit dem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien zunehmend schwieriger erreichen. Schon jetzt müssen die Netzbetreiber immer häufiger eingreifen, um die Netz- und Systemsicherheit trotz schwankender Einspeisemengen zu gewährleisten.
Spitzen versus Lasten
Es existieren zahlreiche geeignete Stellschrauben, um erneuerbare Energien ins System zu integrieren und gleichzeitig eine sichere Stromversorgung zu gewährleisten. Neben Netztrassen für den Stromtransport über weite Strecken, leistungsfähigen Speichern und der Steigerung der Energieeffizienz spielen auch die Flexibilisierung und die gezielte Steuerung der Nachfrage durch Demand-Side-Management eine grosse Rolle. «In einem erneuerbaren Verbrauchsszenario wird es immer wieder Erzeugungsspitzen geben, die weit oberhalb unserer heutigen Verbrauchslasten liegen», sagt Professor Clemens Hoffmann, Leiter des Fraunhofer Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES) in Kassel. «Deshalb werden sich elektrische Verbraucher mit hohen Verlagerungspotenzialen entwickeln. Diese sind neben den Elektromobilen auch Heizungen mit Wärmepumpentechnologie, die Elektrolyse zur Herstellung von Wasserstoff und der direkte Einsatz von elektrischem Strom in chemischen Prozessen.»
Im Moment stehen vor allem der Ausbau und die Ertüchtigung der elektrischen Netze im Fokus. Sie müssen sowohl die schwankenden Einspeisemengen bei gleichbleibender Spannungsqualität bewältigen, als auch Wind- und Solarstrom aus entlegenen Regionen, in denen die Infrastruktur traditionell nicht für derart grosse Mengen ausgelegt ist, zu den Ballungszentren übertragen. «Zu den Drehstromtrassen werden zukünftig auch Gleichspannungsübertragungen, schaltbare Transformatoren, Erdkabel, gasisolierte Leitungen und supraleitende Hochspannungsübertragungen hinzukommen», betont Hoffmann. «Zudem spielen die Kopplungsglieder eine entscheidende Rolle. Das sind die halbleitenden, schnellen Leistungsschalter und Wechselrichter, mit denen in Zukunft fast jeder Verbraucher oder Erzeuger elektrischer Energie ans Netz gekoppelt wird.»
Die Zukunft ist digital
Als Wegbereiter für Technologien wie Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragung (HGÜ), Netzautomatisierung und Smart Grids liefert ABB ein umfassendes Spektrum an Lösungen für die Integration erneuerbarer Energien und zur Steigerung der Energieeffizienz. «Wir gehören zu den wenigen Akteuren im Markt, die im gesamten elektrischen Energieversorgungssystem tätig sind», sagt Professor Jochen Kreusel, Market Innovation Manager Power Grids bei ABB. «Von Komponenten für Erzeugungsanlagen über Netz- und Speichertechnologien, Leistungselektronik, Digitalisierung und Automatisierung bis hin zur Elektromobilität – wir können bei allen Aspekten der Gestaltung der zukünftigen elektrischen Energieversorgungssysteme unterstützen.»
Die Integration regenerativ erzeugten Stroms beschäftigt vor allem die Verteilnetzbetreiber. Deren ursprünglich für einen unidirektionalen Lastfluss ausgelegte Verteilnetze müssen angesichts zahlreicher Solaranlagen auf Dächern mehr und mehr multidirektionale Lastflüsse bewältigen und auf schwankende Einspeisungen reagieren. Dies erfordert intelligente Ortsnetzstationen mit innovativen Schutz- und Automatisierungskonzepten. Deshalb ist davon auszugehen, dass in Zukunft ein gewisser Anteil der Ortsnetzstationen automatisiert sein wird. Denn nur wer sein Netz und die Lastflüsse genau kennt, kann die richtigen Entscheidungen zur Steuerung und Erweiterung treffen.
Eine Schlüsselkomponente des Stromnetzes werden darüber hinaus digitale Umspannwerke in den Hoch- und Höchstspannungsnetzen sein. Da der Bedarf an Steuerung und Regelung wächst, braucht es mehr «Intelligenz» im Netz. Mit einer digitalen Schaltanlage, die alle Komponenten einbindet, unterstützt ABB Netzbetreiber dabei, eine Vielzahl an Zustandsdaten zu sammeln und auszuwerten. Auf diese Weise lassen sich die Komponenten des Stromnetzes effizienter und flexibler betreiben und optimieren. ABB bündelt das Angebot an digitalen Lösungen und Dienstleistungen mit ABB Ability™ und treibt so die Digitalisierung voran.
« Wir gehen davon aus, dass künftig 10 bis 15 % der Ortsnetzstationen automatisiert sind. »
Virtuelle Energie
Eine Schlüsselrolle in der neuen Energiewelt spielen virtuelle Kraftwerke. Sie integrieren die einzelnen Elemente des Energiesystems wie kleine und mittelgrosse Erzeuger, Speicher und flexible Verbraucher mithilfe moderner Informations- und Kommunikationstechnologie zu einem Verbund. Im Gegensatz zu einzelnen Anlagen besitzen virtuelle Pools die notwendige Grösse und Flexibilität, um am Strommarkt teilzunehmen und Systemdienstleistungen wie die Frequenz- und Spannungshaltung zu erbringen – eine Grundvoraussetzung für die zuverlässige Stromversorgung.
Diese Systemdienstleistungen werden derzeit von konventionellen Kraftwerken erbracht. Da in Zukunft mehr und mehr Windenergie- und Solaranlagen dazu beitragen müssen, ist eine kontrollierbarere und flexiblere Erzeugung notwendig. Virtuelle Pools bieten hierfür eine entscheidende Zukunftstechnologie, zu der ABB mit Steuerungslösungen beiträgt.
Die Kraft des Windes lenken
Die Kraftwerkseigenschaften von Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien standen auch im Fokus der Zusammenarbeit von ABB mit einem Hersteller von Windenergieanlagen. Dabei entwickelten die Partner ein modernes Generator- und Vollumrichterkonzept mit hohem Wirkungsgrad für die Turbinen, die in einem kanadischen Windpark zum Einsatz kommen. Bis 2019 sollen mehr als 450 Anlagen mit der Technik ausgestattet werden.
Ein anderes Projekt macht derzeit den Weg frei für den transnationalen Austausch von Windenergie. Mithilfe des weltweit ersten Offshore-Interkonnektors auf Drehstrombasis verbindet ABB das dänische und das deutsche Stromnetz über die Kriegers Flak Combined Grid Solution. Der dänische Windpark Kriegers Flak, der 2019 in Betrieb gehen wird, wird mit den bereits in Betrieb befindlichen, 15 km entfernten deutschen Pendants Baltic 1 und 2 verbunden. Für die notwendige Synchronisation der jeweiligen Stromnetze sorgt eine «Back-to-Back»-Konverterstation auf der Basis der spannungsgeführten HGÜ-Technologie HVDC Light. Sie wandelt Drehstrom in Gleichstrom und direkt wieder in Drehstrom um, sodass sich die beiden Netze miteinander koppeln lassen.
Auch Strom vom Meeresboden gelangt mithilfe von ABB-Technologie ins Netz. Im schottischen MeyGen Tidal Array, dem leistungsfähigsten Gezeitenkraftwerk der Welt, gehen derzeit vier PCS6000-Mittelspannungsumrichter in Betrieb. Die von ABB im schweizerischen Turgi für Windturbinen entwickelten Umrichter synchronisieren dort die durch Wasserkraft generierte elektrische Energie passend zur Netzfrequenz, damit sie eingespeist werden kann. Die von den Gezeiten bewegten Wassermassen erreichen an der Nordspitze Schottlands eine Geschwindigkeit von 5 m/s – das ist doppelt so schnell wie eine typische Flussströmung.
Kleine Netze, grosse Wirkung
Rund um den Globus leisten Microgrid-Lösungen einen zunehmenden Beitrag zur zuverlässigen Versorgung mit erneuerbaren Energien. Sie verbinden dezentrale Erzeugungsanlagen, Speicher und elektrische Verbraucher zu einem Versorgungssystem, das als Teil des bestehenden öffentlichen Stromnetzes oder – falls dieses ausfällt – davon unabhängig als «Inselnetz» betrieben werden kann. Auf diese Weise lassen sich erneuerbare Energien sowohl für die Elektrifizierung entlegener Regionen als auch für die Notstromversorgung etwa von Industrieanlagen nutzen.
«Mit unseren Lösungen können unsere Kunden überall auf der Welt eine Energieversorgung mit hoher Netzqualität zu einem günstigen Preis schaffen», sagt Dr. Britta Buchholz, Global Product Manager Microgrids & Distributed Generation bei ABB. «PowerStore Battery, unsere standardisierte Lösung mit Batteriespeicher und Leistungselektronik, stabilisiert das Netz und kann es im Inselbetrieb führen. Erneuerbare Energien können dabei bis zu 100 % zur Energieversorgung dieses Systems beitragen.» Mehr als 30 Microgrid-Lösungen hat ABB weltweit installiert, darunter auch am südafrikanischen Standort des Unternehmens in Johannesburg.
« Mit unseren Lösungen können unsere Kunden überall auf der Welt eine Energieversorgung mit hoher Netzqualität zu einem günstigen Preis schaffen. »
Fragen von morgen im Blick
Um weiterhin die richtigen Antworten auf die Fragen einer nachhaltigen und sicheren Energieversorgung zu bieten, beteiligt sich ABB Technology Ventures gezielt an jungen innovativen Technologiefirmen. Darüber hinaus betreiben die Ingenieure und Wissenschaftler von ABB Corporate Research Grundlagenforschung. «Die Integration erneuerbarer Energien gehört zu unseren Forschungsschwerpunkten. Wir gehen unter anderem der Frage nach, wie das Versorgungssystem in fünf, zehn oder auch 50 Jahren aussehen wird, untersuchen technisch-ökonomische Fragestellungen und die Wechselwirkungen aller Komponenten im Energiesystem», erläutert Martin Näf, Leiter der Abteilung Automation bei ABB Corporate Research in der Schweiz. «Um ein innovatives und ausgeglichenes Produktportfolio zu definieren, müssen wir stets wissen, was unsere Lösungen heute benötigen und was auf lange Sicht wichtig ist.»
« Die Integration erneuerbarer Energien gehört zu unseren Forschungsschwerpunkten. »